Editorial Daniel Ott und Manos Tsangaris

Die Münchener Biennale ist weltweit das einzige Festival, das ausschließlich Uraufführungen von Werken des neuen Musiktheaters zeigt. Sie hat jungen Komponisten und Komponistinnen schon in der Vergangenheit vielfältige Möglichkeiten eröffnet, sich und ihre künstlerischen Ambitionen auf höchstem Niveau auszuprobieren.

Als uns der Kulturreferent der Stadt München, Dr. Hans-Georg Küppers, fragte, ob wir Interesse hätten, ab 2016 die künstlerische Leitung dieses besonderen Festivals zu übernehmen, waren wir nicht nur überrascht und hoch erfreut ob der wunderbaren Aussichten, sondern haben das uns entgegengebrachte Vertrauen sofort als eine Aufforderung verstanden, die außergewöhnlich erfolgreiche Geschichte der letzten Jahrzehnte hin zu neuen inhaltlichen und formalen Dimensionen weiterzudenken. Es wurden nach Hans-Werner Henze und Peter Ruzicka wieder zwei Komponisten gefragt. Schon das spricht eine eigene Sprache.

Musiktheater ist für uns mehr als nur ein genrebezogenes, sinnliches Vergnügen. Der klassische Kompositionsbegriff hat sich erweitert. Und das aus gut nachvollziehbaren Gründen. Unsere lebensweltlichen Verhältnisse, gerade was ästhetische und formale Rahmensetzungen angeht, überstürzen sich, von den gravierenden politischen Veränderungen zunächst einmal abgesehen. Wie reagieren die Künste? Oder besser noch: wie agieren sie! Denn das, was im Modellversuch, scheinbar nur dem Wahren und Schönen verpflichtet, erfunden, experimentell verdichtet und ausprobiert wird, findet sich, oft unter anderen Namen und Masken, bald in ganz anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen wieder, nicht zuletzt in Werbung, Film, Kommunikations- und Medienpraxis. Aber auch dort, wo Nachrichten übermittelt und Meinungen geformt werden. Für uns bedeutet es, den Kunstraum als Forschungsstätte zu öffnen und zu schützen. Der erweiterte Kompositions-Begriff schließt sehr unterschiedliche Formate ein. Von neuer Oper bis szenischer Installation, von minimalisierter künstlerischer Intervention im Stadtraum zu komponierter Performance, um nur einige zu nennen.

Dieses Spektrum bildet einen Raum, der unsere gesellschaftliche »Vielsprachigkeit«, die alltägliche mediale Polyphonie künstlerisch zuspitzt und reflektiert. Von daher ist neues Musiktheater ein offenes Feld geworden, das gesellschaftliche und auch politische Fragestellungen unter besonderen Bedingungen ausleuchten kann.

Gerade zu Beginn unserer Arbeit scheint es uns naheliegend, ein Thema zu wählen, das die Vielsprachigkeit, die Übersetzungs-Qualitäten, die Konjunktion unter den Teilsprachen des neuen Musiktheaters befragt und ausführt. »OmU - Original mit Untertiteln«, kommt zunächst aus dem Filmzusammenhang, aber sehr schnell wird klar, dass es zum Beispiel auch OmÜ heißen könnte, Original mit Übertitelung, wie sie in den meisten Opernaufführungen geschieht. Und was heißt Originalität, was ist Übersetzung innerhalb des Musik-Theaters, seiner Vorlagen, Libretti, Partituren, Aufführungen, Traditionen, Dokumentationen und Rezeptionsgeschichten ... um den Themenkreis hier nur anzudeuten.

Von Anfang an hatten wir beschlossen, die Münchener Biennale in erster Linie wieder zu einem Nachwuchsforum zu machen. Das Durchschnittsalter der Künstlerinnen und Künstler im Jahr 2016 liegt etwa um die 30 Jahre.  Um den jungen Kunstschaffenden neue Wege zu öffnen, haben wir schon ab 2013 zunächst in München, dann aber auch mit internationalen Partnern weltweit so genannte Internationale Biennale Plattformen durchgeführt, beispielsweise in Bern, Rotterdam, Buenos Aires, Beijing u.a.. Hierbei treffen ausgewählte junge Kunstschaffende aus unterschiedlichen Disziplinen, also nicht nur Komponist_innen, sondern auch Bühnenbildner, Autoren_innen, Regisseur_innen, Video-Künstler_innen, Performer_innen usw. zu bestimmten Themen-und Fragestellungen aufeinander, lernen sich und ihre Arbeiten gegenseitig kennen und bilden schließlich Arbeitsteams, die ihre jeweiligen Projekte in den nächsten Monaten und Jahren gemeinsam verfolgen werden. Teamarbeit ist uns genauso wichtig wie die individuell-künstlerische Konzentration am Arbeitstisch. Unsere erste Ausgabe im Jahr 2016 bezieht einen wichtigen Anteil ihrer Projekte aus diesen Plattformen. Entscheidend hierbei ist, dass die künstlerischen Gewerke einander auf Augenhöhe begegnen und austauschen und von Anfang an produktive Auseinandersetzungen eingehen.

Die Münchener Biennale 2016 präsentiert sich in zeitlich und räumlich konzentrierter Form. Das heißt, es wird in kürzerem Zeitraum mehr Premieren und eine deutlich höhere Aufführungsdichte geben, und das alles in großer Nähe zum Muffatwerk, unserem Festivalzentrum. Alle Spielstätten sind von hier aus fußläufig gut zu erreichen, sei es das Müller'sche Volksbad, der Gasteig, die Kunsträume Lothringer 13 oder Einstein Kultur. Einige Aktionen finden im Stadtraum statt, eine Bus-Oper etwa, wie z.B. der »homöopathischer Mob« oder eine Stadteil-Oper. Zudem wird in einer weitläufig diskursiven Bewegung das gesamte Programm des Festivals in einer Vielzahl von Veranstaltungen unterdessen auch vorbereitend, vermittelnd und reflektierend begleitet von verschiedenen Kooperationspartnern. Und auch innerhalb der Biennale selbst wird über ihr Thema während eines dreitägigen Symposiums nachgedacht und diskutiert werden.

Wir hoffen und wünschen uns, dass die Münchener Biennale als international einzigartiges Festival für neues Musiktheater weiterhin und in intensiver Form die Praxis und den lebendigen Diskurs des zeitgenössischen Musiktheaters befruchten und beflügeln kann, dass möglichst viele Zuschauerinnen und Zuschauer die Vielfalt und Qualität des künstlerischen Angebots wahrnehmen und dass nicht zuletzt auch die beteiligten Künstler_innen in ihrer forschenden Tätigkeit gefördert, angeregt und unterstützt werden.

Daniel Ott, Manos Tsangaris
November 2015

OmU: Original mit Untertiteln. Die Münchener Biennale 2016 Marion Hirte und Malte Ubenauf, Dramaturgie

Original mit Untertiteln. Für all jene passionierten Kinobesucher und Serienfans, die synchronisierte Versionen der von ihnen verehrten Filmwerke leidenschaftlich ablehnen, ist bereits an dieser Stelle alles gesagt: »OmU« - das ist der entscheidende Hinweis (mehr noch: das Symbol!) für unverfälschte Filmvorführung auf allen öffentlichen und privaten Leinwänden dieser Erde. Doch was bedeutet die berühmteste Abkürzung der TV- und Kinogeschichte im Zusammenhang mit der ersten Ausgabe der »Münchener Biennale für neues Musiktheater« unter der künstlerischen Leitung von Daniel Ott und Manos Tsangaris? Es ist die dem ersten der drei Buchstaben innewohnende Uneindeutigkeit, die Tsangaris und Ott dazu bewogen hat, sich selbst und alle am Festival beteiligten Künstler mit der Frage zu konfrontieren, um was es sich tatsächlich handelt, wenn von einem »Original« die Rede ist. Bezogen auf Oper und Musiktheater scheint die Antwort rasch gefunden: ein Original - das ist die auf einem Libretto basierende Partitur des Komponisten. Doch ist die Sache wirklich so einfach? Sind nicht vielmehr alle musikdramatischen Ausdrucksformen auf Zusammenkunft und Interaktion zahlreicher unterschiedlicher Künstler hin konzipiert? Darauf, gemeinsam eine in Zeichenform ausgearbeitete musikalische Erfindung in ein klingendes und szenisches Ereignis zu verwandeln? Was also ist die Partitur? Tatsächlich das Original? Verhält es sich nicht vielmehr so, dass erst in der öffentlichen Aufführung, im Zusammenwirken von Klang, Szene, Raum und Publikum ein Original wahrnehmbar wird? Eines, das sich von Aufführung zu Aufführung, von Inszenierung zu Inszenierung immer wieder verändert und erneuert? Gibt es einen Unterschied zwischen »Autoren« und »Interpreten«, wenn die an der Aufführung beteiligten Künstler das Original überhaupt erst ermöglichen?

Die Frage nach dem Original ist - unter anderem - die Frage nach den Ursprüngen eines künstlerischen Werkes, den einer Musiktheatererfindung zugrundeliegenden (wiederum »originalen«) Inspirationen bzw. Stoffen, und damit eine Frage nach dem Mythos des Werkbegriffs schlechthin.

Im Rahmen der von Daniel Ott und Manos Tsangaris bereits vor zweieinhalb Jahren ins Leben gerufenen ersten internationalen Biennale-Plattform, zu der fast dreißig junge Künstlerinnen und Künstler aus den Bereichen Komposition, Regie, Raum, Kostüm, Dramaturgie und Video sowie zahlreiche Instrumentalinterpretinnen- und Interpreten in München zusammenkamen, wurden die Dimensionen der OmU-Problematik ausgeleuchtet: Welcher Künstler ist auf welche Weise an der Erfindung eines Musiktheater-Originals beteiligt? Inwiefern ist der Anspruch auf originale künstlerische Leistungen überhaupt produktiv? Welche »Ursprünge« für musikdramatische Werke wären denkbar, wenn nicht eine librettobasierte Partitur die ausschlaggebende Bezugsquelle ist? Szenische? Choreographische? Räumliche?

Die Behauptung »Original mit Untertiteln« beinhaltet eine Vielzahl grundlegender Differenzen. Diese finden sich im komplizierten Verhältnis von Schriftlichkeit und Bildlichkeit, von zeichensprachlicher Struktur und abbildender bzw. klingender Wiedergabe. Zwar hat sich die westlich-europäische Kultur mit der Notenschrift ein Zeichensystem erfunden, welches nicht auf Übersetzung im klassischen Sinne angewiesen ist (von einer Landessprache in die andere); und doch erfordert das musikalische Zeichensystem zahlreiche simultane Lesarten von den zur Aufführung gehörenden Teilnehmern. Lesarten, die als Formen der Übersetzung verstanden werden müssen, als Übertragungen von Schriftzeichen in Klänge, Gesänge, Bilder, Räume und Bewegungen. Und da bekanntlich alle Übersetzungen auch Erfindungen sind, weil es keine eindeutigen, geschweige denn originalgetreuen Übersetzungen gibt, sind die Übertragenden im Bereich des Musiktheaters stets Co-Autoren, die das vorliegende Schriftsystem durch ihre persönlichen Verständnisfilter leiten und bei der Übersetzung entsprechend anreichern, kommentieren und verändern. Ähnliches gilt auch umgekehrt. Und zwar immer dann, wenn Komponisten im Zuge einer so genannten »Vertonung« außermusikalische Inhalte in ihre Notensysteme transformieren. Mehr noch jedoch in solchen Fällen, in denen szenische oder räumliche Überlegungen in ein musikalisches Zeichensystem übersetzt werden sollen. Zu all dem gesellt sich die Frage, wem eigentlich die Copyrights an Übersetzungsvorgängen gehören, in denen sich der Autor eines »Originals« aus einer Vielzahl von übersetzenden Autoren zusammensetzt?

Was also genau ist ein Original? Und welche Bedeutung besitzen Untertitel, wenn das Original selbst bereits ein komplex untertiteltes Gebilde ist, das sich aus einer Vielzahl originaler künstlerischer Erfindungen und Übertragungen zusammensetzt? Diesen Fragen nachzuspüren gilt das Interesse der an der Münchener Biennale für neues Musiktheater 2016 beteiligten Künstler. Auf Initiative von Daniel Ott und Manos Tsangaris entwickelten seit Herbst 2014 neun Teams, die sich eigenständig bei der Biennale-Plattform gefunden haben, insgesamt neun konkrete Projekte, die sich mit der OmU-Thematik befassen und nunmehr im Rahmen des kommenden Festivals ihre Uraufführung erleben. Neun »Originale«, die auf sehr unterschiedliche Weise die Vieldeutigkeit künstlerischer Autorenschaft thematisieren. Neun Entwürfe gegenwärtigen Musiktheaters, die - ergänzt durch drei weitere, außerhalb der Biennale-Plattform initiierte Projekte - einerseits für traditionelle Konzerträume und Theaterbühnen im Muffatwerk und Gasteig, andererseits aber auch für ungewöhnliche Aufführungssituationen in der näheren Umgebung des Festivalzentrums sowie für den öffentlichen Raum konzipiert wurden.

Mit der Erweiterung der Spielorte in die Nachbarschaft der Muffathalle gehen die Biennale-Künstler der Frage nach, inwiefern die Bedingungen eines  Original-Schauplatzes die OmU-Problematik ihrer jeweiligen Projekte verschärfen bzw. bereichern. So bespielen die künstlerischen Teams der Biennale während der Festivalzeit neben Muffathalle und Carl-Orff-Saal (Gasteig) das in der unmittelbaren Nachbarschaft gelegene Müller'sche Volksbad, den Ausstellungsraum Lothringer 13, Einstein Kultur sowie verschiedene Orte im öffentlichen Stadtraum. Entsprechend vielfältig gestalten sich die Aufführungsformate: Performances und Installationen mit mehrstündigen Öffnungszeiten (»Hundun«, »The Navidson Records«) verlaufen ganztags, und damit im Vorfeld sowie synchron zu Abendvorstellungen mit eher klassischen Aufführungszeiten von 90 Minuten oder 120 Minuten (»if this then that now what«, »Speere, Stein, Klavier«, »Sweat of the Sun«, »Für immer ganz oben«, »Mnemo/scene: Echos«), unangekündigte Interventionen im Stadtraum (»Staring at the Bin«) ereignen sich parallel zu den mehrmals täglich angebotenen Touren im Biennale-Kino-Bus (»ANTICLOCK OmU«). Der sich immer wieder überkreuzende zeitliche Verlauf der Vorstellungen evoziert dabei eine sich stets wandelnde gegenseitige Untertitelung der jeweils laufenden Ereignisse. Ein eher subversives Phänomen, das sich für jeden Biennale-Zuschauer anders darstellt - je nachdem, welche Veranstaltungen des Festivalangebots in welcher Reihenfolge ausgewählt werden. Auf diese Weise wird der Zuschauer selbst zum Co-Autor eines Originals - dem eines von seiner Wahrnehmung und Interaktion abhängigen Verlauf eines Festivaltages. Während sich für den einen Besucher die Musiktheaterkomposition über David Foster Wallace's kurze Erzählung »Für immer ganz oben« mit einem Besuch der durch den 800 Seiten starken Roman »House of Leaves« des amerikanischen Autor Mark Z. Danielewski inspirierten Installation zu einem echten Labyrinth der Untertitelungen verknüpft, hat der andere Besucher bereits ein Road-Movie der performativen Art absolviert. Die originalen und live improvisierten Soundtracks dieser Kinotour beeinflussen zwangsläufig den weiteren Verlauf des Tages und untertiteln zum Beispiel den Besuch der Produktion »Sweat of the Sun«, deren OmU-Auseinandersetzung im Spiel mit Texten aus Werner Herzogs »Eroberung des Nutzlosen« entsteht. Wer in der zweiten Woche des Festivals unterwegs ist, erlebt schließlich, wie ein ganzer Stadtteil zum Original mit Untertiteln wird. Das Education-Projekt »GAACH« forscht mit ungefähr 100 Bewohnern des Festival-Stadtteils nach OmU-Phänomenen der nächsten Umgebung. Das hierbei angestrebte Ergebnis: quasi eine Volksoper.

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